Kernkraft: Alte Technologie neu gedacht

Atomkraftwerke polarisieren: Einst gefeiert als Inbegriff des technologischen Fortschritts werden sie heute von vielen Menschen aufgrund ihrer Risiken und ihrer radioaktiven Abfälle geächtet. Befürworter sehen hingegen das ideale Mittel, um die Mängel grüner Energiequellen auszugleichen, ohne den CO2-Ausstoss zu erhöhen. Dank neuer Technologien soll die Kernkraft künftig zudem sicherer, günstiger und effizienter werden.

Anfang 2023 ging der letzte deutsche Atommeiler vom Netz. Das Land hatte den Atomausstieg im Zuge der Katastrophe von Fukushima beschlossen. In Berlin setzt man schon seit längerem auf erneuerbare Energien. Im Jahr 2024 kamen rund 63% der deutschen Stromproduktion aus nachhaltiger Produktion. Solar- und Windkraftwerke sind allerdings abhängig vom Wetter. Dies kann die Netzstabilität beinträchtigen und im Extremfall zu Stromausfällen führen.

Atomkraftwerke erleben derzeit ein Revival. Wir raten interessierten Anlegenden, über die ganze Wertschöpfungskette zu investieren – von der Uranmine bis zum Kraftwerksausrüster.

Thomas Rühl, Chief Investment Officer, Schwyzer Kantonalbank

Welche Folgen nur schon ein kurzer, grossflächiger Blackout nach sich zieht, konnte im Frühjahr 2025 in Spanien beobachtet werden. In der Praxis helfen klassische fossile Kraftwerke oder der grenzüberschreitende Stromhandel, Produktionsschwankungen zu stabilisieren. In Deutschland sollten gemäss der Bundesnetzagentur bis 2030 34 bis 42 neue Gaskraftwerke gebaut werden. Fossile Kraftwerke (Kohle oder Gas) stossen jedoch Unmengen an Kohlendioxid (CO2) aus und stehen in Kontrast zur angestrebten Klimaneutralität. Schätzungen gehen davon aus, dass weiterhin rund 35% der globalen Treibhausgase direkt durch die Stromerzeugung entstehen. Atomkraftwerke könnten helfen, den rasant wachsenden Strombedarfschwankungsfrei abzudecken, ohne dabei die hoch gesteckten CO2-Ziele zu torpedieren.

Revival der Kernenergie
Auf dem Weltklimagipfel in Dubai (COP28) im Jahr 2023 wurde die Atomkraft ausdrücklich als wichtige treibende Kraft gegen den Klimawandel genannt. Diese müsse bis ins Jahr 2050 deutlich ausgebaut werden. Auch in der Europäischen Union gilt Atomenergie gemäss der Taxonomieverordnung als ökologisch nachhaltig, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Gemäss Emanuel Macron steht die Atomkraft gar «im Zentrum der französischen Klimaschutzpolitik». Auch die Mehrheit der US-Amerikaner befürwortet den Ausbau der Kernenergie, welche im «Inflation Reduction Act» (IRA) explizit als Mittel gegen den Klimawandel gefördert wird. Gemäss dem Weltverband der Atomenergie (WNA) sind derzeit 439 Kernkraftwerke in Betrieb, welche zusammen eine Leistung von rund 397 Gigawatt (GW) erbringen (zum Vergleich: AKW Leibstadt: 1.2 GW). 68 Reaktoren befinden sich derzeit im Bau. Besonders in asiatischen Schwellenländern entstehen viele neue Atommeiler. Um Chinas Klimaziele zu erreichen, soll der Nuklearstrom auf 18% des Strommixes ausgebaut werden. Dies entspricht einer Leistung von 400 Gigawatt und damit ungefähr den aktuellen globalen Kapazitäten. Doch auch in Europa und den USA sind Projekte geplant oder werden bereits ausgeführt. Im nuklearfreundlichen Frankreich, welches bereits jetzt 65% seines Stromes aus Atomkraftwerken bezieht, sind sechs weitere Anlagen geplant. In der nordfranzösischen Stadt Gravelines soll die bestehende Anlage mit modernsten Reaktorblöcken (EPR2) zum weltweit leistungsstärksten Atomkraftwerk (8.6 GW) ausgebaut werden. In den vereinigten Staaten wurden 2023 und 2024 zwei neue Reaktorblöcke fertiggestellt. Die ersten seit 30 Jahren.

Neue Anwendungen als Stromfresser
Mehr Menschen und die voranschreitende Elektrifizierung sowie neue Technologien erhöhen den Strombedarf. Bis 2030 wird die Nachfrage um 3 bis 4% pro Jahr wachsen. Die Elektrifizierung der Industrie, aber auch die Elektromobilität gelten als die grossen Wachstumsmotoren. Durch künstliche Intelligenz und Cloud-Computing werden zudem Rechenzentren immer wichtiger. Heute sind Rechenzentren bereits für rund 1.5% des weltweiten Strombedarfs verantwortlich. Dieser Wert dürfte sich bis 2030 verdoppeln. Weil die konstante Stromverfügbarkeit für Rechenzentren besonders wichtig ist, greifen auch die grossen Tech-Giganten bei der Versorgung ihrer Computerhubs gerne zu Atomstrom. Sowohl Amazon (AWS), Microsoft als auch Meta haben jüngst entsprechende Zulieferverträge unterzeichnet.

Technologischer Fortschritt der Kernkraft
Die erste Generation von Kernkraftwerken ging bereits vor gut 50 Jahren ans Netz. Viele Meiler sind in die Jahre gekommen, auch in der Schweiz. Neue Atomkraftwerke der aktuellen, dritten Generation gelten als vergleichsweise sicher. Reaktortypen wie der AP1000 von Westinghouse oder der EPR von Areva nutzen unter anderem passive Kühlsysteme. Diese bieten besseren Schutz bei schweren Betriebsunfällen, Erdbeben oder Terrorattacken. Noch neuere Technologien verwenden Metalle oder Salze als Kühlmittel. Ein neuer Reaktortyp des US-Unternehmens TerraPower setzt auf Natriumkühlung. Hierbei kann die Hitze für Stunden gespeichert werden, wodurch das Kraftwerk Energie flexibel abrufen oder speichern kann. Eine nützliche Eigenschaft, um Schwankungen aus erneuerbaren Energiequellen auszugleichen. Zudem soll bei modernen Kraftwerken die Halbwertszeit der radioaktiven Abfälle deutlich kürzer sein, was Risiken für kommende Generationen abmildert. Kleine, modular aufgebaute Kernreaktoren (SMR) sollen künftig dezentral Strom auch an entlegensten Orten produzieren können. Die Minikraftwerke sind kaum grösser als ein Einfamilienhaus und produzieren eine Leistung von bis zu 300 Megawatt. Sie können rasch und kosteneffizient dort eingesetzt werden, wo der Strom auch benötigt wird. SMR werden helfen, das Stromnetz zu entlasten. Forscher des Paul Scherrer Instituts halten es für realistisch, dass bis 2030 in westlichen Ländern entsprechende Reaktoren in Betrieb gehen. Bisher verfügen lediglich Russland und China über solche Reaktoren.

Atomstrom wird günstiger
Planung, Bewilligung und Bau traditioneller Atomkraftwerke sind aufwendig und entsprechend kapitalintensiv. Dies erhöht die Stromgestehungskosten. Im Vergleich zu anderen Stromerzeugungsformen ist Atomstrom vergleichsweise teuer, besonders wenn nachgelagerte Prozesse wie die Endlagerung miteinbezogen werden. Neue Kraftwerke sind allerdings effizienter und preiswerter im Unterhalt. Gemäss einer Studie der ETH wird der AKW-Strom durch neue Technologien deutlich günstiger und kann künftig mit den Preisen aus erneuerbaren Energiequellen konkurrieren. Die US-Energieagentur (EIA) rechnet mit künftigen Stromgestehungskosten zwischen denen von Offshore-Windparks und Solarenergieanlagen.

Risiken bleiben bestehen
Die Risiken von Atomkraft dürfen nicht kleingeredet werden. Selbst mit modernen Anlagen bleiben Restrisiken bestehen. Die von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) eingeführte Bewertungsskala nuklearer Zwischenfälle (INES) verdeutlicht dies. Nebst Katastrophen wie Tschernobyl, Fukushima oder Three Mile Island sind zahlreiche kleinere Unfälle und Störungen verzeichnet. In der Schweiz versagte 1969 das Kühlsystem eines Reaktors in Lucens. Auch das AKW Leibstadt tritt mit Zwischenfällen und Störungen regelmässig in Erscheinung. Terrorismus und missbräuchliche Nutzung der Atomenergie (Plutonium für Kernwaffen), aber auch die langfristige Lagerung der radioaktiven Abfälle gelten als besonders problematisch. Dies, zumal die Risikoabwägung über viele Jahrhunderte vorgenommen werden muss.

Möglichkeiten für interessierte Anleger
Atomkraftwerke erleben derzeit ein Revival. Der geringe CO2-Ausstoss, die wetterunabhängige Stromerzeugung aber auch neue Technologien verbessern das Bild der einst gefürchteten Atommeiler. Anleger, welche gezielt in diese Energieform investieren wollen, können dies über verschiedene Anlagevehikel tun. Wir raten interessierten Anlegenden, über die ganze Wertschöpfungskette zu investieren – von der Uranmine bis zum Kraftwerksausrüster. Dabei sollten mögliche gesellschaftliche, politische und technologischen Risiken in den Anlageentscheid einfliessen.

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