Pierin Vincenz rettet sich in die Verlängerung – verloren hat er trotzdem

Das verhängnisvolle Tor im aufsehenerregenden Strafprozess gegen Pierin Vincenz fiel am 11. April 2022. Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel setzte sich mit einer 350-seitigen Anklageschrift gegen die gegnerische Verteidigung durch und versenkte im übertragenen Sinn das Runde im Eckigen. In der Folge verurteilte das Zürcher Bezirksgericht den vormaligen CEO von Raiffeisen sowie weitere Mitangeklagte wegen gewerbsmässigen Betrugs und ungetreuer Geschäftsbesorgung. Jetzt wurde der vermeintliche Sieg der Zürcher Staatsanwaltschaft überraschend für ungültig erklärt. Das Zürcher Obergericht hat die Anklageschrift wegen «schwerer Verfahrensfehler» zurückgewiesen und die Urteile des Bezirksgerichts aufgehoben. Der Fall muss neu verhandelt werden. Pierin Vincenz rettet sich in die Verlängerung – aber nicht vor der gesellschaftlichen Ächtung.

Bereits im Vorfeld des Strafprozesses gegen Pierin Vincenz war von Beobachtern spekuliert worden, ob die ihm und weiteren Mitangeklagten zur Last gelegten Verfehlungen überhaupt justiziabel sind, oder ob nicht vielmehr ein Freispruch aus Mangel an Beweisen zu erwarten ist. Zum einem, weil sich die Faktenlage für die Strafermittler schwierig, und überaus komplex, darstellte. Zum anderen, weil die Beschuldigten hochkarätige Strafverteidiger aufboten, die darauf trainiert sind, Schwachpunkte in der Argumentation der Staatsanwaltschaft zu erkennen und – fair enough – zum Vorteil ihrer Mandanten auszuschlachten. Wahrlich keine leichte Aufgabe für Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel, der sich mit der fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert sah, eine perfekte Anklageschrift zu verfassen, die über jeden Zweifel erhaben ist. Dabei ist er bedauerlicherweise an seinem eigenen Ambitionslevel gescheitert, wie das Zürcher Obergericht nun festgestellt hat. Von «schwerwiegenden Verfahrensfehlern» ist die Rede und weiter: «Die Staatsanwaltschaft wird die verbesserte Anklageschrift zur ordentlichen Durchführung der Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht einzureichen haben.»

Viele erkennen zu spät, dass man auf der Leiter des Erfolges einige Stufen überspringen kann. Aber immer nur beim Hinuntersteigen.
William Somerset Maugham, Englischer Erzähler und Dramatiker (1874 – 1965)

Sind Pierin Vincenz und seine Mitangeklagten damit aus dem Schneider? Natürlich nicht. Sie retten sich lediglich in die Verlängerung. Das Zürcher Obergericht hat zwar die Urteile des Bezirksgerichts aufgehoben, die Vermögenswerte der Beschuldigten bleiben aber sichergestellt. Zudem äussert sich der Rückweisungsbeschluss nicht zur Frage von Schuld oder Unschuld. Aber obwohl weiterhin die Unschuldsvermutung gilt, dürfte klar sein, dass insbesondere Pierin Vincenz einen hohen Preis für sein fragwürdiges Geschäftsgebaren gezahlt hat. Ein allfälliger juristischer Freispruch in einem zweiten Verfahren ändert nichts daran, dass er bereits alles verloren hat.

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