Angriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer bedrohen den Welthandel
Unternehmen sehen sich mit der neuesten Herausforderung für die Lieferkette konfrontiert: Handelsschiffe müssen von einer der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt umgeleitet werden. Die Folgen variieren von Sektor zu Sektoren. Unternehmen, die aus den Handelsunterbrechungen der jüngeren Vergangenheit gelernt haben, werden jedoch besser in der Lage sein, mit den aktuellen Disruptionen umzugehen.
Viele Unternehmen verfolgen derzeit die Ereignisse im Roten Meer genau: Die Angriffe der Houthi-Rebellen im Jemen auf Handelsschiffe veranlassen Reedereien dazu, ihre Schiffe von einer der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt wegzuleiten. Die Angriffe, die eine Reaktion auf Israels militärische Aktionen im Gazastreifen sind, stellen eine ernstzunehmende Bedrohung für den Welthandel dar. Etwa ein Drittel der weltweiten Containerschiffsfracht fliesst durch die Suezkanalroute, die vor allem Europa und Asien miteinander verbindet. Einige Schiffe wurden auch weiter südlich auf dieser Route angegriffen, wenn sie etwa durch die Strasse von Bab al-Mandab fahren, ein schmaler Kanal, der Afrika und die Arabische Halbinsel trennt. Bislang hat die Störung die Lieferketten und Unternehmen zwar nicht in dem Masse beeinträchtigt wie die Covid-19-Pandemie. Anhaltende Unruhen könnten jedoch zu Verzögerungen bei den Lieferungen und zu höheren Kosten für die Unternehmen – und letztlich auch für die Verbraucher - führen, was einen neuen Inflationsdruck auslösen könnte. Mit Blick auf die Investmentseite führt dies zu einer gemischten Gemengelage in verschiedenen Sektoren.
Kurzfristige Chancen für Reedereien
Kurzfristig ist von einer möglichen Steigerung der Rentabilität von Schifffahrtsunternehmen auszugehen. Dem World Container Index zufolge sind die Containerpreise in den letzten zwei Dezemberwochen um 61% gestiegen. Viele Unternehmen leiten ihre Schiffe für die absehbare Zukunft vom Roten Meer auf die längere Alternativroute um das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas um – was die Reise um etwa 10 Tage verlängert. Der Umbruch dürfte dazu beitragen, einen Teil der überschüssigen Schiffskapazitäten zu absorbieren, da längere Fahrzeiten mehr Schiffe erfordern. Längere Transportzeiten sollten auch das Wachstum des Working Capitals unterstützen. Und doch ist Vorsicht hinsichtlich der Aussichten der Schifffahrtsunternehmen angebracht. Sollten die Angriffe – nicht zuletzt auch aufgrund der Gegenmassnahmen der USA und von Grossbritannien – nachlassen, werden die Containertarife wieder sinken und die Überkapazitäten sich erneut als Herausforderung erweisen. Profitieren können derweil auch Luftfrachtunternehmen, da Unternehmen, die ihre Waren normalerweise auf dem Seeweg befördert hätten, versuchen werden, eine schnellere Lieferung ihrer Güter zu gewährleisten.
Virginie Maisonneuve, Chief Investment Officer, Allianz Global InvestorsDem World Container Index zufolge sind die Containerpreise in den letzten zwei Dezemberwochen um 61% gestiegen.
Steigende Kosten im Einzelhandel
Der Einzelhandelssektor ist von den Konflikten wohl am meisten betroffen. Ein Grossteil ist hier auf den Transport von Waren von asiatischen Herstellern angewiesen. Längere Versandzeiten können zu Verzögerungen bei der Beschaffung von Waren und höheren Kosten führen. Nach Schätzungen von J.P. Morgan machen die Frachtkosten bei Modehändlern etwa 4% der Kosten der verkauften Waren und 2% des Umsatzes aus. Verzögerungen im Seeverkehr könnten daher einige Einzelhändler dazu veranlassen, höherwertige Artikel per Luftfracht zu versenden – was jedoch mit höheren Kosten verbunden ist. Abmildernd wirken hier die vorhandenen Lagerbestände, die in der Regel hoch sind und die Frachtraten vieler Einzelhändler in der Regel über längere Zeiträume abgeschlossen werden. Dadurch kommen die Auswirkungen auf die Spotraten erst nach einiger Zeit voll zum Tragen. Sollten sich jedoch die Frachtraten von Asien nach Europa über einen längeren Zeitraum verdoppeln oder verdreifachen, werden diese zusätzlichen Kosten die Gewinnspannen schmälern.
Ambivalenz im Technologiesektor
Die Auswirkungen auf den Technologiesektor werden hingegen uneinheitlich sein. Die meisten Technologiewaren (einschliesslich Halbleitern, Smartphones und Laptops) werden auf dem Luftweg und nicht auf dem Seeweg verschickt. Unternehmen, die hier von grösseren, auf dem Seeweg beförderten Gütern abhängig sind – etwa Fernsehgeräte, Maschinen und Fahrzeug – sind somit anfälliger. Insbesondere Autohersteller sollten von den Entwicklungen im Roten Meer betroffen sein, da hier die Lagerbestände bereits in den letzten Monaten abgeschmolzen sind. Schon vor der jüngsten Störung waren die täglichen Charterraten für transozeanische Autotransporter Berichten zufolge auf 105’000 US-Dollar gestiegen, während sie vor zwei Jahren noch bei etwa 16’000 Dollar lagen. Zulieferer von Halbleitern für die Automobilindustrie wären wiederrum betroffen, wenn die Autotransporte stark gestört werden. Andernorts könnten Technologieunternehmen, die etwa in den Bereichen Verteidigung und Cybersicherheit tätig sind, von einer Verschärfung der Konflikte profitieren.
Katalysator für Energiewerte
Energiewerte sind aufgrund ihrer starken Bilanzen und des freien Cashflows derzeit positiv bewertet. Dank der derzeitigen Ölpreise ist mit hohen Ausschüttungen an die Aktionäre zu rechnen. Diese könnten noch höher ausfallen, wenn der Krieg im Nahen Osten eskaliert. Nach Angaben der US Energy Information Administration wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2023 12% des gesamten auf dem Seeweg gehandelten Öls durch die Strasse von Bab al-Mandab, die SUMED-Pipeline (in Ägypten) und den Suezkanal transportiert. Die Zahl für Flüssigerdgas lag bei 8%. Noch im Dezember war der Verkehr von Öl- und Kraftstofftankern im Roten Meer Berichten zufolge stabil. Wenn die Rebellen ihr Augenmerk auf die Strasse von Hormuz richten – die schmale Wasserstrasse zwischen Oman und dem Iran, durch die täglich etwa ein Fünftel des gesamten weltweiten Ölverbrauchs fliesst – wäre dies ein grösserer Katalysator für die Ölpreise – und möglicherweise auch für die Energieaktien.
Qualität im Fokus
Viele Unternehmen haben ihre Hausaufgaben als Reaktion auf die jüngsten Umwälzungen im Welthandel gemacht – angefangen von der Covid-19-Pandemie über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine bis hin zu den Handelsspannungen zwischen den USA und China. Die Situation am Roten Meer könnte die Regionalisierung von Lieferketten, die bereits im Gange ist, weiter beschleunigen. Viele Unternehmen haben bereits Nearshoring erprobt, also die Verlagerung von Produktions- oder Zulieferbetrieben in ein Land, das näher am Ort der Nachfrage nach den hergestellten Produkten liegt. Und viele weitere Unternehmen investieren in Technologien, die ihnen einen besseren Überblick über ihre Lieferketten und die Verwaltung ihrer Bestände ermöglichen, um Verzögerungen und Engpässe aufgrund von Unterbrechungen zu vermeiden. Qualitätsunternehmen, die seit der Pandemie mehr Resilienz in ihrem Betrieb aufgebaut haben, werden die aktuellen Herausforderungen eher meistern und etwaige höhere Kosten besser verkraften können. Denn sie können wichtige Produkte auch zu Preisen anbieten, die keine nennenswerten negativen Konsequenzen für ihrem Marktanteil bedeuten.