Ist die Begeisterung für KI Treibstoff für eine Börsenblase?

Erfahrung prägt unsere Sichtweise. Wir suchen stets nach Analogien, um aktuelle Entwicklungen zu vergleichen. Auch wenn wir wissen, dass «die Wertentwicklung der Vergangenheit kein Indikator für die zukünftige Wertentwicklung ist», hilft es uns doch, wenn wir Parallelen zu früheren Ereignissen ziehen können. Viele stellen Vergleiche zwischen der aktuellen Tech-Begeisterung und den Anfängen des Internets her.

Das Paradebeispiel für eine «Blase» ereignete sich in den späten 1990er Jahren. Einige Besonderheiten dieser Zeit:

  • Wenn Unternehmen die Endung «.com» an ihren Namen anhängten, schnellten ihre Aktienkurse in die Höhe. Das kann jedes Unternehmen tun, es hat nichts mit realen Geschäftsaussichten oder Potenzial zu tun.
  • Angesichts des Fehlens von Gewinnen oder gar Umsatzerlösen wurden neue Kennzahlen wie Website-Besuche oder Klicks geschaffen, um den Fortschritt von Unternehmen zu belegen.
  • Viele der führenden Internetunternehmen erzielten keine positiven Ergebnisse, doch selbst im etablierten S&P 500, der für die Indexaufnahme Rentabilität voraussetzt, näherten wir uns bei vielen Large-Cap-Titeln Kursniveaus zum 100-Fachen des Gewinns. Hunderte von Milliarden Dollar an Marktkapitalisierung wurden durch Träume von gewaltigen zukünftigen Gewinnen gestützt.

Ein Anzeichen dafür, dass sich überzogene Bewertungen abzeichnen, könnte ein wesentlich robusterer IPO-Markt für bestimmte KI-Unternehmen sein, was in Zukunft der Fall sein könnte, aber noch nicht eingetreten ist

Chris Gannatti, Global Head of Research, WisdomTree

Was das Geschehen in der ersten Hälfte des Jahres 2023 betrifft:

  • Zwar ergänzen manche Unternehmen ihren Namen um den Zusatz «KI» (künstliche Intelligenz), doch ist die Zahl dieser Titel noch nicht sehr gross. Auch findet der Übergang zahlreicher privater Unternehmen an die Börsen noch nicht statt. Ausserdem haben Unternehmen, die ihren Namen um KI erweitern, echte Geschäftsgründe dafür.
  • Natürlich achten Anleger darauf, wie intensiv Unternehmen KI nutzen oder sich mit Daten befassen. Da sich die Menschen an die «Tech-Blase» der Jahre 2000 bis 2002 erinnern, bezweifeln wir, dass Anleger auch dann sagen werden, dass «Gewinne bzw. Umsatzerlöse keine Rolle spielen» – zumindest könnte das noch einige Zeit auf sich warten lassen.
  • Wenn man sich ansieht, wie die führenden Indizes wie der Nasdaq 100 und der S&P 500 von den grössten Unternehmen nach oben getragen werden, stellt man fest, dass es sich bei all diesen grossen Titeln um «echte Wirtschaftsunternehmen» handelt. Sie erzielen Umsatzerlöse, sie verzeichnen Cashflows und sie verbuchen Gewinne. Es ist durchaus richtig, dass Anleger beispielsweise Nvidia betrachten und denken könnten, dass der Multiplikator für das erwartete Wachstum zu hoch ist – aber es stimmt nicht, dass Nvidia nur den Traum verkauft, eines Tages einen Chip herzustellen. Nvidias Chips existieren, sie werden verkauft – das Unternehmen ist der eindeutige Marktführer für GPUs (Grafikprozessoren), die nötig sind, damit KI funktionieren kann.

Nach einem fast sechsmonatigen Anstieg könnte dem Markt durchaus eine kurzfristige Korrektur bevorstehen. Selbst wenn dieser Anstieg mit einem Hype-Zyklus bei KI einherging, gibt es unseres Erachtens keine Anzeichen dafür, dass sich die breiten technologieorientierten Aktien in einer Blase befinden.

Ein Blick auf die Zahlen
Zur Zeit der «Tech-Blase» verzichteten Anleger darauf, die klassischen Statistiken in Betracht zu ziehen. Diesen Fehler werden wir hier nicht machen. Aus einer Betrachtung von Abbildung 1 geht Folgendes hervor:

  • Wir erstellen eine Ansicht des Sektors «Erweiterte Tech». Unternehmen wie Meta Platforms und Alphabet gehören zum Bereich «Kommunikationsdienste». Amazon.com (selbst unter Berücksichtigung des Zusatzes .com) gehört zum Bereich «zyklische Konsumgüter». «Informationstechnologie» umfasst Microsoft und Apple. Durch die Verwendung der Bezeichnung «Erweiterte Tech» erfassen wir einen breiteren Querschnitt des Technologiesektors.
  • In den Jahren 1998 bis 2000 wies dieser Index – grob gesagt – ein zukunftsorientiertes KGV von mehr als 55 x auf. Der anfängliche Anstieg basierte auf den Preisen und der Euphorie – die zweite Spitze über 50 x ergab sich aus dem schnellen Einbruch der Gewinnerwartungen, als das Platzen der Blase abzusehen war.
  • Wenn man sich ansieht, zu welchem zukunftsorientierten KGV derselbe Index derzeit gehandelt wird, liegt er noch immer unter 30 x. 28,4 x ist nicht «billig», wir wollen nicht andeuten, dass Technologie derzeit in irgendeiner Weise preiswert ist.
  • Im Jahr 2000 waren die Realzinsen höher. Dennoch möchten wir anmerken, dass diese Steigerung der Multiplikatoren mit einem höheren Zinsumfeld einherging, was für Aktien nicht immer einfach zu bewerkstelligen ist. Im Jahr 2000, als der Technologiesektor zum 55-Fachen der zukunftsorientierten Gewinne bewertet wurde, waren die Realzinsen (gemessen an TIPS-Anleihen) doppelt so hoch wie heute.

Abbildung 1: Zukunftsorientiertes KGV von «Erweiterte Tech» im S&P 500 im Zeitverlauf

Quellen: WisdomTree, FactSet und S&P. Früheres zukunftsorientiertes KGV gemessen seit 31. Dezember 1994. «Erweiterte Tech» umfasst den Sektor Informationstechnologie, die Unterbranche Interaktive Heimunterhaltung, die Unterbranche Interaktive Medien und Dienstleistungen, Amazon.com, Etsy und Netflix.

In Abbildung 2 ist dann Folgendes zu sehen:

  • Es ist ersichtlich, wie sich die «anderen Aktien» ausserhalb des Tech-Sektors in Bezug auf die Bewertung entwickelt haben. Diese anderen Aktien überschritten während der Tech-Blase nie das zukunftsorientierte KGV von 30 x.
  • Die aktuelle Bewertung des Sektors «Ohne Tech» des S&P 500 liegt bei 16,7 x und damit sehr nahe am Durchschnitt über den gesamten Zeitraum. Das ist nicht «billig», aber sicherlich auch nicht allzu teuer.

Abbildung 2: Zukunftsorientiertes KGV des Bereichs «Ohne Tech» im S&P 500 im Zeitverlauf

Quellen: WisdomTree, FactSet und S&P. Früheres zukunftsorientiertes KGV gemessen seit 31. Dezember 1994. «Ohne Tech» schliesst die erweiterten Tech-Unternehmen aus, die in Abbildung 1 enthalten sind.

Das Fazit: Eine Blase ist nicht einfach nur «ein bisschen teuer», sondern vielmehr eine Situation, in der die Kurse eindeutig extrem weit über die Fundamentaldaten hinausgehen. Wenn wir uns auf eine klassische Kennzahl, das zukunftsorientierte KGV, zurückbesinnen, sehen wir keine Anzeichen dafür, dass dies der Fall ist.

Umgang mit dem KI-Hype-Zyklus
Wir wissen jedoch, dass die Wertentwicklung bei thematischen Aktien in Wellen verlaufen kann. Eine Möglichkeit für den Umgang mit diesen Wellen ist die Allokation in bestimmte Themen und die Erkenntnis, dass es über einen Zyklus hinweg (eher zehn als fünf Jahre) Phasen mit stark positiven und stark negativen Renditen geben wird. In vielen Fällen ist die Beurteilung, ob die Themen funktionieren oder nicht, etwas völlig anderes als die Betrachtung der Aktienkursentwicklung. Was wir heute wissen ist, dass Nvidia für das laufende Quartal einen Umsatz in der Grössenordnung von 11 Milliarden US-Dollar erwartet. Diese Entwicklung zu verfolgen, die auf eine 12-Monats-Rate von über 40 Milliarden US-Dollar hindeutet, wird von entscheidender Bedeutung sein. Wird sie sich tatsächlich realisieren lassen? Auch Unternehmen wie Microsoft und Alphabet werden weiterhin über das Thema sprechen und neue Optionen für ihre Kunden auf den Markt bringen. Das sind die Dinge, die wir geradeheraus sehen und überwachen können. Ein Anzeichen dafür, dass sich überzogene Bewertungen abzeichnen, könnte ein wesentlich robusterer IPO-Markt (Initial Public Offering bzw. Börsengang) für bestimmte KI-Unternehmen sein, was in Zukunft der Fall sein könnte, aber noch nicht eingetreten ist. Wir behaupten nicht, dass es nicht eines Tages eine Blase geben kann – wir sind alle Menschen und menschliches Verhalten erzeugt Blasen – aber das, was wir im Moment sehen, ist noch keine Blase.

Hauptbildnachweis: Pixabay