Renaissance des Value-Stils ist jetzt

Ein 30-jähriger Bullenmarkt in Obligationen geht zu Ende. Das Risiko für Aktien lässt sich abschätzen und mit unterbewerten Titeln sogar absichern.

Nestlé ist eine ausgezeichnete Firma. In den zehn Jahren bis Ende November 2021 hat die Aktie einen Total Return von 210% hingelegt oder 12% per annum. Gut ein Viertel dieses Returns (3.3% p.a.) kam aus reinvestierten Dividenden. Und die restlichen 8.7%? Sind sie vor allem der grossen Qualität der Produkte und dem Management Nestlés zu verdanken? Oder gar den gesunkenen Zinsen? Beides ist richtig, aber die Zinsen waren wichtiger. Sie machen fast 60% der 8.7% aus. Anleger, die das überrascht, sollten ihr Portfolio auf ein erhebliches – und wohl unbewusstes – Zinsrisiko hin prüfen, auch weil sie dadurch zu wenig von der kommenden Renaissance von Value-Aktien profitieren werden.

Viele Anleger haben die Vorsicht vergessen
Um die Bewertung einer Firma über die Zeit zu verfolgen, werden am besten die Gewinnprognosen betrachtet, die die Analysten für das übernächste Jahr, rollierend, erwarten. So wird von ungewöhnlichen Faktoren, die zur Zeit der jeweiligen Prognose vorgelegen sind, abstrahiert und das grundsätzliche Gewinnpotential erfasst. Die Gewinnschätzungen von Ende November 2011 für Nestlé lagen bei CHF 3.58 pro Aktie und stehen heute bei CHF 5.11. In dieser Zeit ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 14.3x auf 23.1x angestiegen.

Will man das Risiko im Portfolio reduzieren, müssen Aktien mit bereits hohen Risikoprämien gehalten werden, sprich: Value-Aktien.

Georg von Wyss, Portfolio Manager, BWM Value Investing

Das KGV widerspiegelt nicht nur die Wachstumserwartungen und Risiken, die die Anleger einer Firma zuschreiben, sondern auch das aktuelle Zinsniveau. Das sehen wir am Kehrwert des KGV, die sog. Gewinnrendite. Bei Nestlé lag diese im November 2011 bei 7.0% und beträgt heute 4.3%. Werden die jeweiligen Zinssätze des 10-jährigen Eidgenossen von diesen Zahlen abgezogen, ergibt dies die sog. Risikoprämie in Höhe von 6.1% und 4.6% heute. In den letzten zehn Jahren scheint die Risikoprämie somit gesunken zu sein. Das stimmt nur teilweise. Im November 2011 befand sich der Markt in der Eurokrise und allgemeiner Pessimismus herrschte vor. Dies im krassen Gegensatz zu heute: Viele Anleger, von guten Börsen verwöhnt, haben die Vorsicht vergessen, und Nestlé dient erst noch dank seiner konstant wachsenden Dividende für viele als Obligationenersatz. Es ist auffallend, wie stabil Nestlés Risikoprämie in den letzten zehn Jahren zwischen 5 und 6% war (bei einem Durchschnittswert von 5.3%). Anders gesagt: Das KGV expandierte dank den fallenden Zinsen und kann entsprechend auch sinken, wenn diese wieder ansteigen.

Value-Aktien reduzieren das Portfoliorisiko
Das Zinsrisiko ist quantifizierbar. Sollten die 10-jährigen Zinsen um nur einen Prozentpunkt steigen, dann wäre Nestlés Gewinnrendite 5.3% und das KGV 19.6x, also 19% tiefer als heute. Bei Aktien mit hohen KGVs ist die Zinssensitivität noch grösser. Microsoft zum Beispiel (KGV 29.5x, Gewinnrendite 3.4%) würde bei diesem Szenario um 23% fallen. Angenommen: Die allgemeine Euphorie wird temperiert, und die Risikoprämie kehrt wieder auf den historischen Durchschnitt von 5.3% zurück. Dann steigt die Gewinnrendite von Nestlé auf knapp über 6% bzw. das KGV sinkt auf 16.5x. Das entspricht einem Kursverlustrisiko von fast 30%. Will man das Risiko im Portfolio reduzieren, müssen Aktien mit bereits hohen Risikoprämien gehalten werden, sprich: Value-Aktien. Steigt bei einem Titel beispielsweise die Gewinnrendite von 9% auf 10%, fällt das KGV von 11.1x auf 10.0x – der Verlust beträgt bloss 10%. Wenn die Anleger die Aussichten der Firma zusätzlich positiver einschätzen als früher, sodass die Risikoprämie von einem übermässig hohen auf ein normales Niveau fällt, dann kann sogar ein Gewinn entstehen.

Man muss sie nur suchen
Value-Aktien findet man immer. Oftmals liegen sie in vermeintlich unattraktiven Sektoren. Oder es sind Firmen, die gerade interne Probleme bewältigen bzw. sich restrukturieren, um Wert freizusetzen. Gegenwärtig sind es auch Aktien, die von Covid-19 besonders hart getroffen sind. Viele davon sind zwar zu Recht gefallen, aber mit systematischem Research entdeckt man Ausnahmen, die übermässig abgestraft worden sind. Gemeinsam ist allen, dass die Börse sie zu tief bewertet. So ist das Zinsrisiko dank den übermässig hohen Gewinnrenditen bei Weitem überkompensiert.

Jetzt, wo man von Tapering und Zinsanstiegen spricht, ist das Momentum der Börsenlieblinge weg. Sollten die Zinsen bald nachhaltig steigen, wird der Value-Stil sowieso gut abschneiden.

Georg von Wyss

Normalerweise ziehen Value-Titel stets genug Anleger an, dass der Stil langfristig das Halten von teuren Titeln haushoch überperformt. In den letzten Jahren wurden jedoch teure Aktien nicht nur wegen stetig sinkender Zinsen beflügelt, sondern sie wurden auch zunehmend von Momentum getrieben. Obwohl offensichtlich überbewertet (Paradebeispiel Tesla), mussten Portfolio Manager sie halten, bloss weil sie die Benchmarks nach oben trieben. Demgegenüber hat Momentum Value-Aktien nicht erfasst. So sind Bewertungsdiskrepanzen entstanden, die jene aus dem Jahr 2000 sogar übertreffen. Jetzt, wo man von Tapering und Zinsanstiegen spricht, ist das Momentum der Börsenlieblinge weg. Sollten die Zinsen bald nachhaltig steigen, wird der Value-Stil sowieso gut abschneiden. Selbst Anleger, die keine Zinsprognosen machen, dürften aus Sicherheits- oder Diversifikationsgründen einen Teil ihrer Aktien in unterbewertete Titel investieren. Das allein wird die Kurse von Value-Aktien anschieben – und so die Renaissance des Stils einläuten.

Hauptbildnachweis: Unsplash