Ist die Bank of England zu langsam?
Warum verlässt sich die Bank of England (BoE) – anders als alle anderen grossen Zentralbanken – bei ihren Inflationsprognosen eher auf Modelle als auf Daten?
Von 1694, dem Gründungsjahr der Bank of England, bis Ende 2021 sind die Verbraucherpreise in Grossbritannien im Schnitt um 1,8% gestiegen. Abgesehen von Kriegszeiten waren die 1970er Jahre das Jahrzehnt mit der höchsten Inflation von durchschnittlich 12,5%. Den jüngsten Daten zufolge lag die Jahresrate der Verbraucherpreise in Grossbritannien zuletzt bei 11,1%. Für eine Institution, auf deren Website es heisst, sie werde «den Preisanstieg niedrig und stabil» halten, ist die 328-jährige Historie kein grosser Trost, wenn sich die Inflation dem Niveau der 1970er Jahre nähert – und die historisch niedrige Inflation grösstenteils unter einem Metallstandard der einen oder anderen Art erzielt wurde. Auf der gleichen Website heisst es: «Von der Regierung haben wir den Auftrag, die Inflation bei 2% zu halten, weil eine niedrige und stabile Inflation gut für die britische Wirtschaft ist. Wir tun dies, indem wir den Zinssatz festlegen, zu dem wir den Banken Kredite gewähren, und indem wir Vermögenswerte kaufen (oder verkaufen). Dieser Prozess wird Geldpolitik genannt.»
Warum also macht die BoE keinen aggressiveren Gebrauch von der Geldpolitik, um die grassierende Inflation einzudämmen?
Die Inflation ist natürlich ein globales Problem, ausgelöst durch Ungleichgewichte von Angebot und Nachfrage im Nachgang der Coronakrise und der Energiepreisschocks infolge des russischen Einmarschs in der Ukraine. Nach Ansicht der BoE werden derartige Schocks letztlich von der Wirtschaft absorbiert, wenn sich die Lieferkettenstörungen auflösen und die Energiepreise stabilisieren, wenn auch auf einem höheren Niveau. Dies war die Logik hinter der Vorstellung einer «vorübergehenden» Inflation, auf die die Geldpolitik angesichts des globalen Charakters der Öl- und Gaspreise und der internationalen Lieferketten nur schwer reagieren könne. Doch je länger die Preise hoch bleiben, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese anfänglichen Schocks auf die inländischen Preise übergreifen. Ausserdem fordern die Arbeitnehmer verständlicherweise höhere Löhne und Gehälter, um den Rückgang ihres verfügbaren Einkommens zu kompensieren. Tatsächlich ist der Preisanstieg der vergangenen sechs Monate über alle Volkswirtschaften hinweg grösstenteils auf inländische Faktoren zurückzuführen, insbesondere auf die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Im Gegensatz zu den Energiepreisen können die Zentralbanken das Preisverhalten im Inland beeinflussen. Und je schneller sie agieren, desto eher lässt der inländische Preisdruck nach, da höhere Zinsen die Nachfrage schwächen. Das erklärt, warum die weltweiten Notenbanken die Zinsen in diesem Jahr so aggressiv gestrafft haben.
Russell Silberston, Investment Strategist, Ninety OneDie Kommunikation der BoE ist deutlich von den anderen grossen Zentralbanken abgewichen. Anstatt die Markterwartungen hinsichtlich der Höhe der Zinsen zu bestätigen, hat sie versucht, die Markterwartungen zu dämpfen.
Die BoE war recht schnell am Start. Ihre erste Zinserhöhung nahm sie bereits im letzten Jahr um diese Zeit vor, bevor der Leitzins in mehreren Schritten auf 3% angehoben wurde – den höchsten Stand seit vor der globalen Finanzkrise. Im Vergleich zu anderen grossen Zentralbanken hat die BoE jedoch eher zögerlich gehandelt. Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen innerhalb von fünf Monaten um 2% angehoben, die US-Notenbank (Fed) innerhalb von neun Monaten um 3,75%. Auch die Kommunikation der BoE ist deutlich von den anderen grossen Zentralbanken abgewichen. Anstatt die Markterwartungen hinsichtlich der Höhe der Zinsen zu bestätigen, hat sie versucht, die Markterwartungen zu dämpfen. So hat die BoE erklärt, dass die Zinsen wahrscheinlich steigen würden, vermutlich aber mit einem Tempo, das «niedriger ist, als es die Finanzmärkte eingepreist haben».
Wir führen die relative Zurückhaltung der BoE angesichts der hohen Inflation darauf zurück, dass sie nicht bereit ist, ihr prognosegestütztes Verfahren zu ändern. Dieses modelliert den Wirtschaftsausblick über einen Dreijahreshorizont und erstellt dann unter Berücksichtigung der Finanzierungsbedingungen, der Fiskalpolitik und der Kapazitätsreserven eine Inflationsprognose. Im Gegensatz dazu haben die Fed und die EZB erst die Zinsen erhöht und dann Fragen gestellt. Implizit haben sie damit signalisiert, dass Wirtschaftsprognosen in einem unsicheren Umfeld müssig sind, zumal es ohne Preisstabilität kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum geben kann. Indem sie versucht, die Zukunft zu prognostizieren und die Zinsen entsprechend auszutarieren, verhält sich die BoE nicht nur ganz anders als ihre internationalen Pendants, sondern geht auch Risiken für die Preisstabilität ein, die nur schwer zu korrigieren sind, falls sich ihre Modelle als falsch erweisen sollten.
Russell SilberstonIndem sie versucht, die Zukunft zu prognostizieren und die Zinsen entsprechend auszutarieren, verhält sich die BoE nicht nur ganz anders als ihre internationalen Pendants, sondern geht auch Risiken für die Preisstabilität ein, die nur schwer zu korrigieren sind, falls sich ihre Modelle als falsch erweisen sollten.
Hätte Grossbritannien einen Handelsüberschuss, würde es mehr sparen als ausgeben oder wäre die Glaubwürdigkeit seiner Haushaltspolitik nicht gerade erst grundlegend in Frage gestellt worden, wäre der Ansatz der BoE vielleicht angemessen. Es gibt jedoch Anzeichen aus der Industrie, dass sich das Preisverhalten vom Inflationsziel von 2% abkoppelt. Das BoE-eigene Decision Maker Panel zeigt einen branchenübergreifend erwarteten durchschnittlichen Preisanstieg von 6,4% für das nächste Jahr. Das ist ein grosser Sprung gegenüber dem Wert von 4%, der vor zwölf Monaten erwartet wurde. Auch das in drei Jahren erwartete Inflationsniveau liegt inzwischen höher. Angesichts der wirtschaftlichen Schwachstellen des Vereinigten Königreichs kann es sich die BoE nicht leisten, hier einen Fehler zu machen.
Wie George Orwell sagte: «Zu sehen, was sich vor der eigenen Nase befindet, bedarf ständiger Anstrengung.» Die Inflation nähert sich einem Niveau, wie wir es zuletzt in den 1970ern gesehen haben und die Inlandspreise drohen, sich vom Inflationsziel der BoE abzukoppeln. Trotzdem hält die BoE an ihrem komplexen Modellierungsansatz fest und behauptet weiterhin, dass sich die Anzeichen eines grösseren inländischen Preisdrucks von selbst korrigieren werden, wenn sich die Wirtschaft abschwächt. Manchmal ist es besser, die Dinge nicht zu kompliziert zu machen. Andere Zentralbanken haben einen einfacheren Weg gewählt: Sie haben die Zinsen schnell und aggressiv gestrafft, weil sie wissen, dass sie ihre Politik neu kalibrieren können, sobald sie ausreichend restriktiv ist. Bleibt nur zu hoffen, dass die Bank of England mit ihren Bemühungen, den Weg zur Preisstabilität zu modellieren, richtig liegt.