Die Anleger sollten wieder mehr Respekt vor höheren Zinsen bekommen
In der Theorie ist es einfach. Läuft die Wirtschaft gut, geht es den Aktienmärkten gut, zumindest in der ersten Hälfte des Wachstumszyklus der Konjunktur.
Mit der Zeit steigen allerdings die Zinsen, weil die Zentralbanken ihre Geldpolitik restriktiver gestalten, um die Inflation unter Kontrolle zu halten. Die Aktienmärkte beginnen zu stottern, da sie die folgende Abschwächung der Konjunktur vorwegnehmen. Die Kurse sinken bereits, bevor das Wachstum effektiv einbricht. Während des wirtschaftlichen Abschwungs sinken sowohl die Aktienkurse als auch die Zinsen. In der Folge reagieren die Zentralbanken mit einer Lockerung ihrer Geldpolitik und die Aktionäre schöpfen wieder Hoffnung, obwohl das Tal der Konjunkturdelle noch nicht erreicht ist. Dieser Mechanismus hat über eine lange Zeit und über viele Wirtschaftszyklen einigermassen gut funktioniert. Seit der Finanzkrise 2008 und auch während und nach der Corona-Pandemie ist dieser Ablauf aus dem Tritt geraten.
Thomas Stucki, CIO St.Galler KantonalbankDie Investoren verlassen sich immer stärker darauf, dass die Zentralbanken sie nicht im Stich lassen und ihnen bei Gefahr zur Seite stehen.
Die Aktienmärkte halten sich noch an den Fahrplan, aber die Zinsen haben sich von der wirtschaftlichen Realität abgekoppelt. Die Zentralbanken tun alles, um die Zinsen trotz wirtschaftlichem Aufschwung tief zu halten. Während der langen Wachstumsphase zwischen 2009 und 2019 haben es die EZB und die SNB verpasst, ihre Geldpolitik restriktiver zu gestalten. Die Fed hat ihre Zinsen nach langem Zögern etwas erhöht. Beim ersten Gegenwind im Frühjahr 2020, der zugegebenermassen eine scharfe Böe war, hat sie jedoch sämtliche Zinserhöhung der Jahre zuvor mit einem Schlag wieder rückgängig gemacht.
Zu viel des Guten
Auch jetzt tun sich die Zentralbanken schwer, den Fuss vom geldpolitischen Gaspedal zu nehmen, obschon die steigenden Inflationsraten ein Hinweis darauf sind, dass die Geldimpulse und die staatlichen Hilfsprogramme während der Corona-Pandemie vielleicht zu viel des Guten gewesen sein könnten. Da die Zinsen trotz starkem Wirtschaftswachstum und sinkender Arbeitslosigkeit nicht steigen, fehlt den Aktienmärkten ein wichtiger Indikator, der zur Vorsicht mahnt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Investoren verlassen sich immer stärker darauf, dass die
Thomas StuckiWenn Aussagen die Runde machen, dass Aktien mit hohen Dividenden ein Ersatz für die fehlenden Zinsen von Obligationen sind, läuten die Alarmglocken.
Zentralbanken sie nicht im Stich lassen und ihnen bei Gefahr zur Seite stehen. Diese Haltung hat sich in den letzten Jahren ausbezahlt. Der Swiss Performance Index hat sich seit 2009 vervierfacht. Rückschläge gab es zwar verschiedentlich. Diese waren jeweils nur von kurzer Dauer. Ein rechter Teil der Kursanstiege erklärt sich durch höhere Gewinne der Unternehmen, sehr viel aber durch höhere Bewertungen und durch Umschichtungen aus Obligationen auf der Suche nach Rendite. Wenn Aussagen die Runde machen, dass Aktien mit hohen Dividenden ein Ersatz für die fehlenden Zinsen von Obligationen sind, läuten die Alarmglocken. Eine solch unkritische Haltung gegenüber den Risiken der Aktienmärkte ist gefährlich.
Auf Dauer kann das nicht aufgehen
Dass die tiefen Zinsen ein starker Treiber für die Aktien sind, lässt sich heute gut beobachten. Die Angst vor einer restriktiveren Geldpolitik der Fed und vor höheren Zinsen beunruhigt die Anleger. Unter den Erwartungen ausfallende Daten aus der US-Wirtschaft werden an den Aktienmärkten deshalb als positive Nachricht aufgenommen, was eigentlich absurd ist. Aber sie lassen die Hoffnung spriessen, dass die Fed die Reduktion ihrer Anleihenskäufe und vor allem Zinserhöhungen weiter in die Ferne schiebt. Die Folge sind noch höhere Aktienkurse und noch höhere Bewertungen. Auf Dauer kann dieses Spiel nicht aufgehen. Die Fed und auch die anderen Zentralbanken tun gut daran, mit einer restriktiveren Geldpolitik nicht lange zuzuwarten, wenn sich die Wirtschaft weiter erholt. Die Anleger sollten wieder mehr Respekt vor höheren Zinsen bekommen.