Zinspause, nicht Entwarnung: Die Rückkehr der EZB-Falken

Im Gegensatz zur US-Notenbank erwarten die Märkte bei der Sitzung am Donnerstag keine Zinssenkung seitens der Europäischen Zentralbank (EZB).

Das vorherrschende Narrativ besagt, dass der Zinssenkungszyklus seinem Ende entgegengeht und dass die europäische Wachstumsdynamik nun weitgehend auf der Fiskalpolitik beruht. Einige Marktteilnehmer (mit einer Wahrscheinlichkeit von 40% an den Optionsmärkten) ziehen sogar eine Anhebung der Leitzinsen bis Ende 2026 in Betracht.

Ein Rückgang der EZB-Leitzinsen ist ein Szenario, das die Märkte derzeit kaum einpreisen.

Kevin Thozet, Mitglied des Investment-Komitees, Carmignac

Am 18. Dezember dürfte Christine Lagarde den Ansatz der EZB bekräftigen, wonach Entscheidungen bei jeder Sitzung des EZB-Rats neu bewertet und von der Entwicklung der wirtschaftlichen Indikatoren geleitet werden. Die zu diesem Anlass ebenfalls erwarteten neuen Wachstums- und Inflationsprognosen dürften diese Ausrichtung untermauern.

Die Falken schlagen zurück: Die Prognosen verschaffen ihnen neuen Spielraum
Die neuen Prognosen, die nun bis 2028 reichen, dürften ein über dem Potenzial liegendes Wachstum von rund 1,4% sowie eine Inflation von 2% – also auf Zielniveau – ausweisen. Diese Projektionen senden eine doppelte Botschaft: Die Wirtschaft des Euroraums entwickelt sich in die richtige Richtung, doch mittelfristig könnte sich eine restriktivere Geldpolitik abzeichnen. Die Wachstumsprognosen dürften an die jüngsten Daten angepasst werden. Das dritte Quartal fiel stärker aus als erwartet, und die Frühindikatoren für das vierte Quartal sind positiv. Auf der Inflationsseite deuten die endgültigen Zahlen für Oktober sowie die ersten Schätzungen für November darauf hin, dass die Inflationsprognosen für das Quartal um etwa 0,2% angehoben werden könnten. Naturgemäss – und in gewisser Weise paradoxerweise – sind diese Projektionen rückwärtsgerichtet, doch sie konvergieren allesamt auf eine Verbesserung des wirtschaftlichen Pfads. Gleichwohl dürfte die Inflation 2026 unter dem Zielwert bleiben: zunächst aufgrund von Basiseffekten bei der Energie, später durch einen Rückgang der Dienstleistungsinflation. Die Löhne bleiben jedoch ein Unsicherheits- und Diskussionspunkt. Während die vorausschauenden Indikatoren der EZB und des Indeed Hiring Lab auf eine Abschwächung hindeuten, zeigen die Eurostat-Daten zur Arbeitnehmervergütung deutlich stärkere Anstiege. Die um ein Jahr verschobene Einführung des neuen Emissionshandelssystems (ETS2) verzögert lediglich dessen preistreibende Wirkung (geschätzt auf +0,25%, da die Emissionszertifikate über die Schwerindustrie hinaus auch Verkehr und Heizen umfassen) von 2027 auf 2028. In der Folge dürfte die Aussage, dass «die EZB sich in einer guten Position befindet», beibehalten werden. Während die Dynamik in den Peripherieländern weiterhin günstig bleibt und Frankreich der politischen Unsicherheit standhält, könnten die Prognosen der Bundesbank zur entscheidenden Variablen werden, die im Juni für 2026 lediglich ein reales Wachstum von +0,7% veranschlagt hatte.

Implikationen für den Anleihemarkt
Vor diesem Hintergrund erwarten wir am 18. Dezember keine Änderung der Geldpolitik der EZB. Die für 2026 bis 2027 projizierte Inflation dürfte unter dem Zielwert bleiben (1,7% bzw. 1,8%), während ein Leitzins von 2% in der Mitte der als neutral angesehenen Bandbreite liegt. Diese Konstellation verschafft der EZB eine Art «Sicherheitsmarge» in der Geldpolitik: Zinssenkungen könnten im Falle einer konjunkturellen Abschwächung oder einer Verschlechterung der Marktstimmung rasch eingesetzt werden. In diesem Umfeld erscheinen kurzlaufende europäische Anleihen besonders attraktiv. Sie bieten einen (wenn auch bescheidenen) Carry sowie eine interessante Asymmetrie, da sie von einem Rückgang der Leitzinsen profitieren könnten – ein Szenario, das die Märkte derzeit kaum einpreisen.

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