White Collar – Strategie

«White Collar» ist unsere Satire-Kolumne über (Un-)Sinnigkeiten aus der Geschäftswelt. In der neuen Folge widmet sich Andreas Hönger dem Thema Strategie.

Der Oberste, zwar überwiegend Mensch und demzufolge einer von uns, aber doch über uns Nichtswürdigen. Sein grosser Geist, seine fast beängstigende Weitsicht, seine erhabene Gesinnung und seine allumfassende, tiefe Güte waren weit über derjenigen der menschlichen Natur, ja sogar jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Eines regnerischen, dunklen Tages gab er seinem Hausverwalter eine Botschaft; nur mit einer feinen Geste der Hand und einem gemurmelten Satz. Der Hausverwalter wusste sofort, dass es sich um eine ganz bedeutende Nachricht handelte. Er wagte es aber nicht, die umfassende Bedeutung derselben nachzufragen, war doch der Oberste schon länger schwächlich und musste sich zur Ruhe legen. Aus diesem Schlaf erwachte er aber nicht mehr. Der Hausverwalter bereute bitterlich, dass er nicht um Erklärung der Botschaft nachgefragt hatte. Er rief alle Hausangestellten zusammen und spielte ihnen, soweit er dazu überhaupt in der Lage war, die Geste mit dem

Strategie ist ein Wort, vor dem alle Respekt haben. Überall, wo es auftaucht, löst es Demut aus.

Holger Jung und Jean-Remy von Matt

Gemurmel vor und beauftragte sie, die Botschaft zu entschlüsseln. Alle waren treu ergeben und machten sich emsig an das Verstehen der Botschaft. Es war ihr inständiges Ziel zu enträtseln, was der Oberste hatte mitteilen wollen. Aber angesichts der Grösse des Obersten war es für Normalsterbliche unmöglich, in gleicher Weise die Durchdringung aller wesentlichen Aspekte zu erreichen und daraus zu folgern, was zu tun sei. Nichtsdestotrotz stellten alle Hausangestellten alles Eigene zurück, um den Sinn der Botschaft des Obersten zu verstehen, der durch seinen Tod noch mehr an überwältigender Bedeutung zukam. Sie bildeten interne Zirkel, beschauten die Botschaft von der einen und der anderen Seite, diskutierten, interpretierten, überschliefen und beteten. Doch mit allem sinnieren und beraten blieben sie so gescheit wie vorher. Aber sie gaben nicht auf, könnte doch ein Detail, ein noch so kleiner Hinweis, übersehen worden sein. Als Jahre später ein neuer Eigentümer in das Haus einzog, fügten sie sich klaglos in die neue Situation und gingen ihren täglichen Verrichtungen ungeläutert weiter nach.

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