Deutschland im mentalen Abwärtssog

Der Industriestandort Deutschland leidet. Offenkundige Defizite können in eine gefährliche Abwärtsspirale münden.

Wolfgang Grupp, Patron des T-Shirt-Herstellers Trigema von der Schwäbischen Alb, lässt auf den Standort Deutschland nach wie vor nichts kommen. Die Firma mit dem Affen als Werbefigur wird weiterhin «zu 100 Prozent» im Land produzieren. Aber sonst zieht es selbst Mittelständler ins Ausland – früher mit dem Schlachtruf Globalisierung, inzwischen aber verbunden mit schlechten Noten für die Heimat. Das ist ein gefährlicher Trend, verstärken solche Echokammern doch die greifbaren Missstände. Alle glauben, alles sei schlecht am wichtigsten Industriestandort Europas.

Deutschlands fette Jahre sind vorbei.

Gunter Schnabl, Wirtschaftsprofessor, Universität Leipzig

Für Deutschland wird dieses Jahr praktisch kein Wachstum erwartet. Die Zinswende und eine steigende Verschuldung treiben die Zinszahlungen des Staates in die Höhe. Einen Mann wie Gunter Schnabl, Wirtschaftsprofessor an der Universität Leipzig, überrascht das nicht. «Deutschlands fette Jahre sind vorbei», lautet der – etwas reisserische – Titel seines jüngsten Buches. Schnabel plädiert für einen umfassenden Richtungswechsel: kein billiges Geld mehr, das überkommene Strukturen stützt, ein Zurückschrauben staatlicher Ausgaben mit Wohlfahrtscharakter sowie eine umfassende Deregulierung.

Stihl findet die Schweiz attraktiv

Die Analysen von Wissenschaftlern sind das eine, die Erfahrungen von Praktikern das andere. Hier haben sich jüngst zwei gewichtige Vertreter aus dem Mittelstand, dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zu Wort gemeldet. Wie Trigema haben der Motorsägenhersteller Stihl sowie der Maschinenbauer Herrenknecht ihre Firmensitze in Baden-Württemberg, einem der industriellen Herzen der Bundesrepublik. Der Produzent von Kettensägen und der Anbieter von Tunnelbohrmaschinen, die auch beim Gotthard-Basistunnel zum Einsatz kamen, geniessen international einen Ruf wie Donnerhall. Aber in zwei unabhängig voneinander geführten Interviews in der bürgerlichen FAZ gehen sie in ihren Urteilen weit über die Energiekosten hinaus, die nach dem Abschalten der Kernkraftwerke in Deutschland sowie infolge des Angriffs von Russland auf die Ukraine stark gestiegen sind. Daran ändert auch nichts, dass 2023 für Stihl wie für Herrenknecht geschäftlich gut gelaufen ist. Stihl überlegt nach den Worten des Beiratsvorsitzenden Nikolas Stihl, die nächste grosse Investition in dreistelliger Millionenhöhe statt in Baden-Württemberg am schon bestehenden Schweizer Standort vorzunehmen. In Deutschland hätten sich die Bedingungen in den vergangenen Jahren sichtbar verschlechtert. Anders in der Eidgenossenschaft. O-Ton Stihl: «In der Schweiz passt das Gesamtpaket aus steuerlicher Belastung, Lohnnebenkosten, Energiepreisen, Genehmigungsprozessen und den Kosten für die Arbeitsstunde. Die Schweiz ist für uns momentan günstiger als eine Investition in Deutschland.» Welch ein Kompliment – und zugleich eine Mahnung, es mit staatlichen Auflagen, Steuern und Arbeitskosten nicht zu übertreiben.

In der Schweiz passt das Gesamtpaket aus steuerlicher Belastung, Lohnnebenkosten, Energiepreisen, Genehmigungsprozessen und den Kosten für die Arbeitsstunde.

Stihl

Es fehlen Ingenieure
Der 81 Jahre alte Firmengründer Martin Herrenknecht nimmt diese Aspekte ebenfalls aufs Korn. Er fordert, «das Soziale im Bundeshaushalt auf ein Mass zurückzuführen, dass es im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft steht.» Statt 50 Prozent wie gegenwärtig sollten die Sozialkosten maximal 30 Prozent des Etats betragen. Herrenknecht kämpft als letzter westlicher Anbieter gegen eine aggressive chinesische Konkurrenz und will seine nächsten Investitionen in Indien tätigen. Solche Auslandsaktivitäten würden vielleicht in jedem Fall erfolgen. Das Klagen über die Standortschwächen Deutschlands passt zumindest nicht recht zu dem offenkundigen Fachkräftemangel. Laut Herrenknecht bewarben sich früher vor seiner Haustür an der Fachhochschule Offenburg 250 junge Leute für das Fach Maschinenbau, heute seien es noch 40 bis 50. Bei Schweissern sei die Lage noch schlimmer. «Da haben wir mittlerweile mehr als 80 Kollegen aus Lettland und Litauen, weil wir hier keine finden», so der Patron. Lieber Start-Up-Kleinunternehmer denn angestellter Ingenieur: Zeigt dies einen Mentalitätswandel unter jungen Leuten oder einen Standort im Umbruch? Und von wo lassen sich die Märkte besser bedienen? Aus Deutschland heraus oder zum Beispiel aus Polen, wohin es auch den Haushaltsgerätehersteller Miele zieht? Klar ist: Der Ruf, ein hart arbeitendes Industrieland mit hoher Qualität und voller Dynamik zu sein, ist schnell verspielt. Freizeit zählt. In der Nähe von Herrenknecht befindet sich in Rust das bekannte Vergnügungszentrum Europa-Park.

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