Eine Ode an das Trinkgeld

Das seit Jahrhunderten gebräuchliche Trinkgeld erfüllt viele Zwecke. Gerne wird vergessen, dass es auch ein Übungsfeld für Unternehmer ist.

Die deutsche Sprache ist durchsetzt von englischen Neophyten. Doch dem Wort Trinkgeld kann der englische Tip bis heute kaum den Rang streitig machen, obwohl das Wort doch so kurz und glatt daherkommt. Das bildstarke «Trinkgeld» vermag nämlich zahlreiche Assoziationen zu wecken. Es klingt nach der Maloche und dem Schweiss von Möbelpackern und Pizzakurieren, den es zu lindern gelte. Der Obolus kann sowohl in die kleine Tasse Espresso als auch den grossen Humpen Bier fliessen. Je nach Summe drückt er in feinsinniger Weise die Anerkennung, die Freude oder auch die Ernüchterung des Geldgebers mit der erhaltenen Leistung aus.

Trinkgelder können je nach Nationalität unterschiedlich ausfallen. In Japan sind sie verpönt. In vielen Teilen der Welt stehen Chinesen, Inder und Russen im Ruf von Gästen mit zugenähten Taschen. Auf der anderen Seite unterliegen Amerikaner vielfach einer fast zwanghaften Geldvergabe, dies gefördert durch die Lage in der Heimat. Europäer, besonders diejenigen der deutschsprachigen Länder, sind nach dem Urteil der einschlägigen Fachleute wie Kellner und Zimmermädchen ebenfalls relativ grosszügig.

Die Schweizer sind relativ spendabel
Hierzulande entbehrt zumindest der Zustupf an die guten Geister in den Restaurants nicht der Ironie. Seit 1974 ist nämlich offiziell – wie zum Beispiel auch in Italien – dort der «Service inbegriffen». Dennoch legen die Gäste in der Regel immer noch etwas drauf. Nur ausgewiesene Gunstverweigerer, Miesepeter oder völlig Unzufriedene scheren sich einen Teufel um das seit dem 15. Jahrhundert gebräuchliche Trinkgeld, das in der Schweiz einst auch zur weinseligen Bekräftigung eines Handels diente. Ökonomisch betrachtet liegt das Trinkgeld irgendwo innerhalb des Dreiecks aus Entgelt, Spende und Bestechung. Es ist eine höchst persönliche Gabe und daher in bar dem Empfänger viel zugewandter als mit Twint. Angesichts seines freiwilligen Charakters bietet der Obolus zudem ein wunderbares Übungsfeld für Unternehmer und solche, die es werden wollen. Ein ideales Übungsfeld ist es deshalb, da ein Scheitern des mit einem Trinkgeld verbundenen Kalküls nur ein begrenztes finanzielles Risiko birgt.

Ökonomisch betrachtet liegt das Trinkgeld irgendwo innerhalb des Dreiecks aus Entgelt, Spende und Bestechung.

Jürgen Dunsch

In der Unternehmerrolle gilt es zunächst, die Zielgruppen der Empfänger zu identifizieren. Ein CEO disqualifiziert sich qua Funktion für Trinkgelder. Am anderen Ende der Skala tummeln sich Servicekräfte, Taxifahrer und Fremdenführer. Dazwischen ist Feingefühl gefragt. Bekleidungsverkäuferin nein (ihre Beratung ist Teil des Kaufpreises), Pöstler und Zeitungsboten gerne an Weihnachten, Blumenzusteller in der Regel ja. Taktisch wohnt dem Trinkgeld der Wunsch nach einer Wiederholung der Leistung in der sich ausbreitenden Dienstleistungsgesellschaft inne. Statt mit Härte wie bei Kauf- und Investitionsverhandlungen versucht der Geldgeber, mit Grossmut an sein Ziel zu gelangen. Die Gabe sollte in der Regel diskret erfolgen, aber den Anschein von Bestechung vermeiden. Wichtig: Schön variabel bleiben und an den letzten Eindruck denken. Die Filmdiva Marlene Dietrich und ihr Mann gereichen nicht zum Vorbild. Sie begannen ihre Atlantiküberquerungen jeweils als Big Spender, so dass ein makelloser Service an Bord gewährleistet war. Die Enttäuschung kam beim Abschied, als die Geldquelle zum besonders freudig erwarteten Finale nicht mehr sprudelte. Die Höhe von Trinkgeldern ist auch von den Zeitläuften abhängig. Während der Pandemie war die Grosszügigkeit offenbar gewachsen.

Wenn sich Herz und Portemonnaie öffnen
Strategisch kann das Trinkgeld eine langfristige Verbindung zwischen Gebern und Nehmern herstellen. Wem gehen nicht Herz und Portemonnaie auf, wenn die Kellner ihren Gast beim Italiener seines Vertrauens mit den Worten «Dottore, wie schön Sie wieder zu sehen» begrüssen? Aber Vorsicht: Eine grosszügige Trinkgeldvergabe kann auch ein Zeichen von Unsicherheit sein, indem man unter dem fordernden Blick eines Empfängers einknickt. Hier gerät die klare Abhängigkeit vom Geber, vulgo das Verhältnis von Herr und Fuhrknecht, in Schieflage. Armut oder Reichtum eines Spenders lassen übrigens nur begrenzt Rückschlüsse auf die Höhe seines Trinkgeldes zu. Der ewig klamme Schriftsteller James Joyce etwa war für sein spendables Wesen bekannt. Wer andererseits sowieso ständig von dienstbaren Geistern umgeben ist, wird gerne knausrig. Trinkgelder schaffen eine fluide Beziehung zwischen Spender und Empfänger. Das kann nicht verwundern, ist doch der freiwillige Obolus ein Rest pekuniärer Anarchie in einer zunehmend von bürokratischen Vorgaben geknebelten Welt. Nutzen wir den Spielraum und schlagen uns im Zweifel eher auf die Seite der Grosszügigen.

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