Julius Bär und die Ökonomie des Nicht-Hinsehens
Es gibt Führungspositionen, die man aus Überzeugung übernimmt, und solche, die man nur annimmt, wenn man sicher ist, dass die wichtigsten Risiken bereits entschärft sind. Stefan Bollinger dürfte zwischen diesen Kategorien inzwischen klar unterscheiden können. Sein Einstand bei Julius Bär war jedenfalls nicht der eines Mannes, der eine solide Basis vorfindet, sondern der eines CEOs, dem man ein Dossier überreicht hat, in dem die entscheidenden Seiten fehlen – eine schwierige Ausgangslage.
Der 600-Millionen-Abschreiber unter seinem Vorgänger Philipp Rickenbacher wäre in den meisten Banken ein Anlass gewesen, das verbleibende Kreditbuch minutiös zu durchleuchten. Bei Julius Bär entschied man sich offenbar für eine effizientere Lösung: Man tat es nicht. Eine Methode, die in der Branche gerne zur Anwendung kommt, wenn sich unangenehme Wahrheiten abzeichnen, in der Realität aber dieselbe Wirkung hat wie das Ignorieren eines Alarms – solange niemand hinsieht, klingt er nicht.
Stefan Bollinger dürfte angenommen haben, dass diese Arbeit erledigt wurde. Die Alternative wäre, anzunehmen, er sei bewusst in ein unkalkulierbares Risiko hineingelaufen – eine Annahme, die selbst die zynischsten Marktbeobachter nicht unterstellen möchten. Das Ergebnis war vorhersehbar: Ein zweiter Abschreiber vor ein paar Monaten über 130 Millionen Franken und jüngst am vergangenen Montag über weitere 150 Millionen Franken. Eine Serie, die man höflich «ungünstig» nennt, und nüchterner als das, was sie ist: eine Bank, die ihre Kreditrisiken nicht im Griff hat. Investoren und Kunden dürften entsprechend irritiert reagieren. Vertrauen ist im Banking ein kostbarer Gut – und es verliert schneller an Wert, als jede Bilanz auszuweisen vermag. Bei Julius Bär mag man sich einreden, dass die Situation unter Kontrolle ist. Die Zahlen liefern jedoch eine deutlich weniger schmeichelhafte Interpretation.
Monika Kühn-Görg, Autorin, Lyrikerin, AphoristikerinDu hast nichts mehr unter Kontrolle, wenn du über etwas die Kontrolle verlierst.
Stefan Bollinger ist nicht der Verursacher dieser Misere. Aber er ist derjenige, der öffentlich dafür einstehen muss. Dass er die Altlasten möglicherweise unterschätzt hat, gehört zu jenen Fehlern, die im Finanzsektor nicht als bedauerlich gelten, sondern als vermeidbar. Wer ein Finanzinstitut in diesem Zustand übernimmt, tut gut daran, nicht auf Zusagen interner Verantwortungsträger zu vertrauen, sondern auf Daten. Und wer das nicht tut, wird im Nachhinein selten als entschlossen wahrgenommen, sondern als jemand, der überrascht wurde – ein Befund, der für einen CEO schwerer wiegt als jeder Abschreiber. Seine personellen Neubesetzungen, teils aus vertrauten Kreisen seines vormaligen Arbeitgebers, wirken in diesem Zusammenhang weniger wie eine strategische Erneuerung, sondern eher wie eine Schutzmassnahme: Man umgibt sich mit Menschen, deren Reaktionen man einschätzen kann, wenn die Lage sich weiter verschlechtert. Ein rationaler Schritt – wenn auch keiner, der Stärke ausstrahlt.
So bleibt Stefan Bollinger die Aufgabe, eine Bank zu stabilisieren, deren Probleme nicht seine eigenen sind, deren Konsequenzen aber sehr wohl. Ein weiterer Abschreiber wäre nicht nur ein finanzielles Problem, sondern ein persönliches. Und in der Finanzwelt weiss man: Zahlen verhandeln nicht – schon gar nicht mit einem CEO, der sie zu spät gesehen hat.