Wie die SNB ein geldpolitisches Paradoxon perfektioniert hat
Die Preisstabilität ist das zentrale Fundament der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Im schweizerischen Kontext lässt sich dieses Ziel jedoch nicht losgelöst von den strukturellen Besonderheiten des Landes verstehen: Lohnträgheit, die Rolle des Frankens als sicherer Hafen, hohe Handelsöffnung und eine starke institutionelle Glaubwürdigkeit. Diese Faktoren prägen ein geldpolitisches Regime, das unter den entwickelten Volkswirtschaften einzigartig ist.
Seit über zwei Jahrzehnten verzeichnet die Schweiz eine durchschnittliche Inflationsrate, die deutlich unter jener ihrer internationalen Vergleichsländer liegt. Diese Leistung ist unter anderem auf eine moderate Lohnentwicklung zurückzuführen – in einem System ohne automatische Indexierung der Löhne an die Preise. Studien von Kitov und Kitov (2011) zeigen, dass die Elastizität der Inflation gegenüber der Arbeitslosigkeit in der Schweiz mit jener Japans vergleichbar ist und um ein Vielfaches niedriger liegt als in den USA. Die nominale Trägheit der Löhne wirkt dabei als Dämpfer klassischer Preis-Lohn-Spiralen und trägt dazu bei, externe Preisschocks, etwa bei Energie oder importierten Gütern, zumindest teilweise zu neutralisieren. Hinzu kommt ein stark verankertes Inflationsverhalten der Marktteilnehmer. Die Analyse von Fazio, Powell und Williams (2023) zur Glaubwürdigkeit von Zentralbanken in kleinen offenen Volkswirtschaften zeigt, dass die SNB – neben Norwegen und Schweden – zu den zuverlässigsten Institutionen im Umgang mit Inflation zählt. Die mittelfristige Verankerung der Erwartungen reduziert Schwankungen bei den Realzinsen und dämpft die Wirkung importierter Volatilität.
Arthur Jurus, Head of Investment Office, ODDO BHFDie Fähigkeit, nationale Disziplin mit globaler Klarsicht zu verbinden, bildet das Rückgrat der schweizerischen Währungsresilienz.
Zentral für das schweizerische Gleichgewicht ist jedoch der Wechselkurs. In einer Volkswirtschaft, deren Importe nahezu 50 Prozent des BIP ausmachen, wird die Landeswährung zum wichtigsten Kanal der geldpolitischen Transmission. Eine Aufwertung des Frankens führt rasch zu importierter Desinflation. Fink, Frei, Maag und Zehnder (2023) zeigen, dass eine Erhöhung des SNB-Leitzinses um 25 Basispunkte zu einer sofortigen Frankenaufwertung von durchschnittlich 0,8% führt – ein Effekt, der drei- bis viermal stärker ist als im Euroraum. Die Auswirkungen auf die Inflation sind signifikant: Eine nominale Aufwertung um 1% senkt die Teuerung innert eines Jahres um rund 0,15 Prozentpunkte. Vor dem Hintergrund dieser Sensitivität stützt sich die Strategie der SNB auf eine bedingte Inflationsprognose mit einem Horizont von drei Jahren, basierend auf der Annahme eines konstanten Leitzinses. Dieser Rahmen, 2000 eingeführt, stellt einen bewussten Bruch mit dem strikten Inflationsziel der EZB oder dem symmetrischen Durchschnittsziel der US-Notenbank dar. Wie Kohli (2010) betont, schützt dieser bedingte Ansatz vor selbstverstärkenden Erwartungsfehlern, wie sie aus zu präzisen geldpolitischen Signalen entstehen können. Gleichzeitig erlaubt er eine probabilistische Lesart der Inflation unter Berücksichtigung globaler Unsicherheiten.
Transparenz unter Druck: Wie die SNB im globalen Fragmentierungszeitalter Balance hält
Die institutionelle Kommunikation der SNB hat sich über die Jahre vertieft. Seit 2015 setzt sie systematisch auf sogenannte «Fan Charts», um Prognoseunsicherheiten sichtbar zu machen, und hat die Rolle des Frankens als externer Stabilisator in ihre öffentlichen Stellungnahmen integriert. Im Jahr 2025 erfolgte ein weiterer Meilenstein mit der Einführung eines strukturierten Sitzungsprotokolls, das vier Wochen nach jeder geldpolitischen Entscheidung veröffentlicht wird. Damit nähert sich die SNB den Transparenzstandards führender Zentralbanken, ohne den kollegialen Charakter ihrer Entscheidungsprozesse zu beeinträchtigen. Die zunehmende Komplexität des globalen Umfelds erschwert jedoch die Steuerung der Geldpolitik. Seit 2022 haben geopolitische Spannungen und protektionistische Tendenzen zu nachhaltigen Divergenzen in den Inflationspfaden der großen Währungsräume geführt. Laut OECD-Bericht (2024) zur monetären Fragmentierung ist die Korrelation der Inflation zwischen den USA und dem Euroraum binnen drei Jahren von 0,9 auf 0,6 gefallen. Für die Schweiz erhöht diese Entkopplung die Wechselkursvolatilität. Wenn etwa die US-Notenbank ihre Zinsen senkt, verstärken sich die Kapitalzuflüsse in den Franken, was die SNB in ein Spannungsfeld zwischen Preisstabilität und internationaler Wettbewerbsfähigkeit bringt. In einem solchen Umfeld sind globale dynamische Modelle unverzichtbar, um das Zusammenspiel externer Schocks und inländischer Inflation zu verstehen. Studien der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, 2024) belegen, dass geldpolitische Impulse aus dem Ausland in der Schweiz doppelt so schnell wirken wie im Euroraum, während die Sensitivität gegenüber importierten Preisen um den Faktor drei höher liegt. Die finanzielle Offenheit der Schweiz, gepaart mit der Glaubwürdigkeit der SNB, verstärkt diese Exponierung.
Letztlich ist die Preisstabilität in der Schweiz nicht das Ergebnis eines geldpolitischen Automatismus, sondern Ausdruck eines fein austarierten Gleichgewichts zwischen institutioneller Verankerung, strategischer Anpassung und präziser Interpretation der globalen Lage. In einer Welt zunehmender Schocks, Fragmentierung und sinkender Korrelationen beruht diese Stabilität auf einer Geldpolitik, die zugleich strikt, flexibel und analytisch offen für internationale Koordination bleibt. Diese Fähigkeit, nationale Disziplin mit globaler Klarsicht zu verbinden, bildet das Rückgrat der schweizerischen Währungsresilienz.