Börsensprüche im Härtetest

Eingängig klingende «Börsenregeln» gibt es zuhauf. In der aktuellen Lage sind sie mehr denn je kritisch zu betrachten.

Die Finanzmärkte sind letztlich nicht berechenbar. Die Kurve der Ungewissheit steigt an von Anleihen über Aktien bis zu Währungen. Dennoch gibt es so viele grundsätzliche Ratschläge wie Münzen in Dagobert Ducks Geldspeicher. Sie entsprechen dem natürlichen Wunsch der Menschen nach Vereinfachung. «Sell in May and go away», lautet die wohl bekannteste Empfehlung, die jeder Anfänger schon bald einmal hört. «Diversifikation» lautet ein anderes, weniger leichtfüssig klingendes Stichwort. Aber welchen Wert haben die Ratschläge in Zeiten wie diesen mit steigenden Inflationsraten, einem Umbruch in der Zinslandschaft, Rezessionswolken, hohen Volatilitäten und ungewissen Zeithorizonten für mehr Klarheit an den Märkten? Oder sind manche Empfehlungen unter den herrschenden Bedingungen womöglich besser als frühere Gewissheiten? «Greife nicht in ein fallendes Messer» – was sollen Anleger aktuell davon halten?

Diversifikation hat nicht funktioniert
Die grosse Enttäuschung dieses Börsenjahres wird wohl die «Diversifikation» werden. Der Mensch strebt von Natur aus zur Risikominderung. Nicht alle Eier in einen Korb zu legen, wird auch in Zukunft wichtig sein, hat aber aktuell besonders in der bedeutendsten Streuung, der zwischen Aktien und Obligationen, versagt. Gemeint ist die Tatsache, dass im Normalfall fallende Aktienkurse mit steigenden Anleihewerten einhergehen. 2022 ist bisher alles anders gewesen, Aktien und Anleihen fielen gleichzeitig. Von den spiegelbildlich anziehenden Renditen für Obligationen profitieren nur Neuanleger. Und Bernd Hartmann, Chefstratege der VP Bank, macht darauf aufmerksam, dass bis in die jüngste Zeit nach dem strukturellen Abwärtstrend der Renditen in den letzten Jahren den Kurseinbussen nur eine niedrige laufende Verzinsung entgegengestanden habe. Cash wäre die bessere Wahl gewesen, doch hier drohten in der Tief- und Nullzinsphase bis vor kurzem Negativzinsen. Aber Hartmann macht auch Hoffnung: Das gestiegene Renditeniveau sorge nun für ein höheres Potential für Anleihen, schreibt er in einer Kurzbetrachtung von Anfang November. Im Gegensatz zu Kursgewinnen sind höhere Zinsen allerdings steuerpflichtig.

Exchange Trade Funds (ETF) stehen im Ruf eines einfachen, breit diversifizierten und kostengünstigen Zugangs zu den Märkten. Vor allem Anbieter wie das VZ Vermögenszentrum, die gezielt auch Kleinanleger ansprechen, können sie nicht genug loben. Doch angesichts der Makro-Negativspirale leiden Staaten wie auch Branchen, mithin die grossen Einsatzgebiete der ETF. In Europa verzeichneten in diesem Jahr bis zum Ende der ersten Novemberwoche alle grossen Börsen Rückgänge, gerechnet in Franken. Angeführt wird die Liste von so unterschiedlichen Plätzen wie Stockholm und Warschau mit jeweils gut einem Drittel Wertverlust. In der übrigen Welt konnten nur die Börsen in Lateinamerika, Singapur, Mumbai und Jakarta zulegen. In toto litten die Schwellenländer noch stärker als die Industriestaaten. Nach Sektoren betrachtet hellt sich das Bild nur wenig auf. Auch hier lag man bisher zum Beispiel in Europa überall im Minus. Allein Öl und Gas bildeten mit plus 28 Prozent die grossen Ausnahmen.

Eine kluge Diversifikation muss sich mit einer noch schlaueren Selektion paaren.

Jürgen Dunsch, Wirtschaftsjournalist

Also lieber auf einzelne Standardwerte setzen? Pikanterweise wird etwa in Deutschland der Dax40 eingerahmt vom Sportartikelhersteller Adidas am Anfang und dem Online-Modehändler Zalando am Ende, die beide nebst Puma mit jeweils mehr als 50 Prozent die grössten Einbrüche seit Ende 2021 erlebten. Dazwischen steht das Plus von 19 Prozent der Deutschen Telekom. Hierzulande ist bekanntlich die Credit Suisse in diesem Jahr der schlimmste Alptraum, gefolgt von Geberit, Sika und Partners Group. In diesen unruhigen, in den Kursen auseinanderdriftenden Zeiten gilt mehr denn je: Eine kluge Diversifikation muss sich mit einer noch schlaueren Selektion paaren. Zugleich hat die «Preissetzungsmacht», ein oft empfohlenes Anlagekriterium, zumindest im Fall von Geberit nicht funktioniert. Obwohl eher technisch klingend, sind dagegen kontinuierlich steigende Dividenden in der Vergangenheit ein ziemlich guter Wegweiser. Für die Schweiz seien hier die Beispiele Givaudan, Nestlé und Roche genannt.

Vorsicht bei den «Megatrends»
«Hin und her macht Taschen leer» lautet ein weiterer eingängig daherkommender Börsenspruch. Nicht hektisch handeln, sondern langfristig planen, ist damit gemeint. Sonst verdient nur die Bank durch ihre Gebühren. In der aktuellen Situation heisst das, Anleger sollten nicht unbedingt mit einem weiteren Ausverkauf an der Börse rechnen und undifferenziert verkaufen. Die jüngsten Kurseinbrüche hatten ja schon kurz nach dem Jahreswechsel 2021/22 begonnen. Niemand weiss, wann das «fallende Messer» auf den Boden aufschlägt. Konkret verbindet sich damit die Frage, wie stark die befürchtete globale Rezession schon in den Kursen «eingepreist» ist, ein weiteres beliebtes Schlagwort im Finanzjargon.

So mancher Trend braucht länger als gedacht, ehe er zu einer Welle wird, Biotech ist dafür ein Beispiel.

Jürgen Dunsch

Die Antworten hierzu schwanken. In dieser Tristesse umso freudiger setzen die Banken hingegen auf ihre «Megatrends» und empfehlen entsprechende Fonds. Damit sind nicht nur ESG-Produkte gemeint, im selben Masse gilt dies für Cybersicherheit, alternde Gesellschaften, Wasseraufbereitung und vieles andere mehr. Doch Vorsicht: So mancher Trend braucht länger als gedacht, ehe er zu einer Welle wird, Biotech ist dafür ein Beispiel. Und wenn die Wucht einsetzt, profitieren davon nicht unbedingt die vielfach kleinen Firmen, die in den Fonds enthalten sind. Unsicherheit ist zurzeit noch mehr als sonst der treueste Wegbegleiter der Anleger. Dies schliesst positive Überraschungen nicht aus. Vielleicht wird so der nächste Mai ein Monat für Zukäufe.

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